Björn Berge: "Atlas der verschwundenen Länder"

Schon als ich die Einleitung las, war mir Herr Berge gleich symphatisch: Der Mann wandert jedes Jahr für eine Woche dem Meer entlang. Denn ein ähnliches Projekt verfolge ich seit Jahren mit meiner Frau: wir wandern zwar nicht eine Woche lang, sondern suchen im Rahmen des von uns so genannten "Die Küsten Europas"-Projekts Plätze zum Urlauben, die durch ihre besonderen Küsten besonders interessant sind: Das Wattenmeer im Norden genau so wie die Steilküste Portugals, die vergleichsweise sanfte Ostsee und so fort. Dort wird dann auch gewandert, fotographiert, gezeichnet, gelesen. Touristisches slow food, sozusagen.

 

Der Mann hat aber auch noch andere seltsame Vorlieben: als wäre Briefmarkensammeln nicht exotisch genug in der heutigen Zeit, hat Berge es auf Briefmarken von Ländern abgesehen, die heute nicht mehr existieren. Zwar gibt es die Landmasse selbst natürlich schon noch, die politisch-rechtlichen Verhältnisse aber haben sich geändert. 50 dieser Länder stellt der Autor in diesem Buch vor, da sind bekanntere dabei, wie das "Königreich beider Sizilien", das durch die Vereinigung Italiens aufgehört hat zu existieren, aber auch bis dahin zumindest mir völlig unbekannte, was zwar an meinem Bildungsstatus liegen kann, aber alles kann man schließlich nicht wissen. Berge führt seine LeserInnen in die Geschichte der jeweiligen Länder ein, macht dabei passende literarische Ausflüge, stellt Kochrezepte des Landes dazu und natürlich gibt es zu jedem der 50 Länder eine Abbildung einer passenden Briefmarke. Diese Abbildungen sind aus meiner Sicht das einzige, was man an dem Buch kritisieren kann, sie sind mir meist zu unscharf, ansonsten macht es richtig Freude, es in Händen zu halten und durchzublättern: Hervorragend gut gebunden, starkes Papier, schöner Druck, lesefreundlich matte und nicht reinweiße Seiten. Mit Durchblättern näherte ich mich dem Buch an, begleitet von Staunen und Stirnrunzeln. Nach diesem  ersten Durchblättern begann ich dann über die einzelnen Länder zu lesen, aber nicht gleich über alle auf einmal. Das Buch liegt nun in dem Regal, in dem andere nur teilweise bzw. gänzlich ungelesene meiner Aufmerksamkeit harren, immer wieder nehme ich es heraus und lese die Geschichte eines weiteren Landes, das auf unseren Landkarten, naja, heute muss man eher sagen auf google maps, nicht mehr zu finden ist.

 

Wenn man Freude an vermeintlich unnützem Wissen und/oder Geschichte/Geographie hat, dann wird man dieses Buch sehr mögen und sollte es nicht versäumen.

 

Gelesen 2018-03 ff

Thomas Bernhard: "Beton"

Jedes Jahr muss ich Thomas Bernhard wiederlesen, das ist so etwas wie meine "Literarische Konstante". Diesmal war "Beton" an der Reihe, ein typischer Bernhard-Roman. Rudolf, so heißt der Ich-Erzähler, wie wir aus zwei Einschüben im ersten und im letzten Satz des Buches erfahren ("..., schreibt Rudolf, ...") sammelt seit Jahren Material für eine Arbeit über Felix Mendelssohn Bartholdy, seinen Lieblingskomponisten. Allein, er kann diese Arbeit nicht vollenden, schlimmer, er kann sie nicht einmal beginnen. Oftmalige Versuche, die geeigneten Bedingungen für das Verfassen des ersten Satzen, nach dem dann ja alles von allein ginge, herzustellen, gingen schief, niemals ließ sich dieser erste und allerwichtigste Satz finden.

 

Das Buch beginnt, da hat seine Schwester, die er zugleich bewundert und verachtet, das gemeinsame Elternhaus verlassen, in dem sie ein Wohnrecht auf Lebenszeit hat. Der Erzähler wohnt permanent in dem alten Steinhaus, das sich unschwer als Bernhards Haus in Ohlsdorf identifizieren läßt, unterbrochen nur von Reisen an ausgesuchte Orte, feine Adressen, denn beide Geschwisterteile sind durch den Reichtum der verstorbenen Eltern materiell gut abgesichert. Während die Schwester aber erfolgreich Immobilien in der sogenannten guten Gesellschaft verkauft, bringt Rudolf keine seiner angestrebten Arbeiten fertig, und wenn doch, dann vernichtet er sie vor einer eventuellen Veröffentlichung, um sie nicht der Kritik durch andere auszusetzen.

 

Während ihres Aufenthaltes, der Rudolf stört und seiner Meinung nach der Grund ist dafür, dass er nun wieder den ersten Satz zu seiner Mendelssohn Bartholdy-Arbeit nicht finden kann, riet ihm die Schwester, zu verreisen, er solle doch den Winter nicht in diesen kalten Gemäuern verbringen. Rudolf lehnte dies entschieden ab, als er nach ihrer Abreise seine Arbeit aber wieder nicht beginnen kann, folgt er ihrem Rat - er reist nach Palma auf Malloca, natürlich in das feine Hotel, in dem er immer absteigt. Sein Werk zu beginnen gelingt dort natürlich auch nicht, man weiß als LeserIn aber schon längst, dass ein dafür geeigneter Ort nicht existiert. Dort erinnert er sich an die Begegnung mit einer jungen Frau vor einigen Jahren, Anna Härdtl, die damals ihren Mann bei einem Unfall, dessen Hergang nie geklärt wurde, verloren hatte. Sie wohnte damals in einer der gräßlichen mallorquinischen Betonburgen, der Mann stürzte nachts vom Balkon des Zimmers hinab auf die Straße und war sofort tot. Schockiert und unfähig zu handeln erfuhr die Frau am Tag nach dem Unglück, ihr Mann sei bereits beerdigt und erhielt nur eine Grabnummer. Als sie mit Rudolf, den sie zufällig kennengelernt und dem sie die Geschichte in einem Straßencafé erzählt hatte, den Friedhof be- und dort das Grab ihres Ehemannes suchte, fanden sie eines dieser typischen südländischen Gräber in Form eines kleinen betonierten Häuschens mit der Grabnummer; der Schachtraum, in den der Leichnam hineingelegt worden war, war zubetoniert.

 

An diese Geschehnisse erinnert sich Rudolf, als ihn plötzlich eine große Unruhe erfasst, er läßt sich unverzüglich zum Friedhof fahren um dort am Grab des Mannes festzustellen, dass nun auch seine Frau Anna dort beerdigt ist. Auf Nachfrage beim Friedhofsportier erfährt er nur "suicido" - also Selbstmord.

 

Neben der Bernhard typischen Suada, die wie immer Kritik an allem und jedem beinhaltet, Staat, Politiker, Religion, Kirchen, Moden, die "gute Gesellschaft" usw., begleitet das Leitmotiv des Betons die LeserInnen den gesamten Roman hindurch. Ist dieses Motiv im ersten Teil des Buchs, als sich Rudolf in seinem Haus befindet, noch eher bildhaft zu sehen in Form des Panzers, in den er sich selbst zurückgezogen, geradezu also einbetoniert hat, wird das Titel gebende Baumaterial im zweiten Teil des Buchs konkret (concrete = Beton auf Englisch) in Form der Betonwüste, die die Billighotels des Massentourismus darstellen. Hanspeter, Anna Härdtls Mann, stirbt bei seinem Unfall, dessen Behandlung durch die lokalen Behörden kafkaeske Züge zeigt, durch den Aufprall auf den Betonboden vor dem Hotel, um schließlich, mit Verzögerung gemeinsam mit seiner Frau, die letzte Ruhestätte in einem betonierten Grabhäuschen zu finden. Dieses Leitmotiv klingt, und für mich war das fast hörbar wie bei einer Symphonie, erst mit den letzten Sätzen des Buches ab:

 

"Nachdem ich diesem meine Frage ganz deutlich und wie ich sehen konnte, selbst auf spanisch sehr gut verständlich machen hatte können, sagte der Portier nur mehrere Male das Wort suicido. Ich lief zum Irrenhaus hinüber, um mir ein Taxi kommen zu lassen, was vom Friedhof aus nicht möglich gewesen war und fuhr sofort ins Hotel zurück. Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, schreibt Rudolf, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst."

 

Mit diesem letzten Satz, der auch gut der erste eines Romans sein könnte, schließt Bernhard die Klammer um diesen Roman, der damit wieder ganz am Anfang steht. In Angst einbetoniert im Leben und darüber hinaus.

 

Gelesen 2018-03

Mary Beard: "Frauen und Macht"

Mary Beard, Historikerin mit Schwerpunkt römische Antike, fasst in diesem zwar schmalen, aber deshalb nicht weniger gescheiten Band zwei Vorträge zum Thema "Frauen und Macht" zusammen. Sie zeigt darin auf, wie den Frauen schon quasi in der Geburtsstunde der abendländischen Literatur der Mund verboten wird, als Telemach seine Mutter, die das Wort erhob gegen die Freier, zurück an den Webstuhl schickt, dies sei eine Sache, die unter Männern verhandelt werde.

 

Beard nennt viele weitere, ähnliche Beispiele aus späteren Epochen, bis beinahe in die heutige Zeit hinein. Hier und heute aber ortet sie weniger Gleichberechtigung der Frauen an der Macht, auch wenn sich heute mehr Frauen in Machtpositionen befinden als je zuvor, sondern Anpassung der Frauen an die Spielregeln der Macht. So nahm etwa die frühere britische Premierministerin Margareth Thatcher Stimmunterricht, um mit tieferer Stimme zu sprechen und damit ernster genommen zu werden. Angela Merkel und Hillary Clinton kleiden sich wie Männer in Hosenanzügen, um Männern ähnlicher zu sein. Das ist natürlich keine Gleichberechtigung, und Beard weiß, wie wir alle, dass da noch viel Luft nach oben ist, wenn Frauen auch an Machtpositionen Frauen sein können, wenn z.B. ihre Stimmen nicht mehr als schrill empfunden werden, was, wie Beard nachweist, ebenfalls erlernt ist und keineswegs angeboren.

 

Ein erhellendes kleines Büchlein mit vielen "Aha"-Momenten.

Mirko Bonne - "Lichter als der Tag" - Licht und Wärme

Raimund und Floriane, Moritz und Inger. So sind sie zumindest verheiratet. Früher aber war es Moritz und Floriane, Raimund und Inger. Und Raimund und Inger gab es auch zwischendurch, zumindest im Geheimen, auch als es schon Moritz und Inger gab.

Zum Zeitpunkt, als die Geschichte erzählt wird, ist Raimund, Redakteur bei der Zeitschrift "Der Tag" aber schon seit längerem mit Floriane verheiratet, eine in ihrem Beruf aufgehende Kieferchirurgin wie ihre Mutter schon. Man hat zwei gemeinsame Kinder, eine pubertierende Tochter und eine noch wesentlich jüngere. Während Floriane kaum Zeit für Mann und Kinder hat, plätschert Raimunds Leben in unaufgeregter Langweile und Leere vor sich hin, moralisch unterstützt von seinem Freund Bruno, Kollege beim "Tag".

Moritz und Inger sind aus Florianes und Raimunds Leben verschwunden, weil ... na das lesen Sie besser selbst. Dann aber trifft Raimund wieder auf Inger, der eigentlich immer sein Herz gehört hätte, er wird sich seiner Leere bewußt und holt aus zu einem Befreiungsschlag, der ihn und uns LeserInnen nach Südfrankreich führt, auf der Spur nach einem Gemälde von Corot, das in Raimunds Leben eine stetige Rolle gespielt hat - es ist voll von dem Licht, nach dem Raimund sich sein Leben lang sehnt.

Dieser Schluss ist etwas phantastisch, schrammt hart an der Grenze des Glaubhaften, aber vor allem gelingt es Bonné (zumindest bei mir), die Lichtstimmung, die auch auf dem Gemälde von Corot zu bewundern ist, auf das Geschriebene zu übertragen (Das Motiv des Lichtes zieht sich durch das ganze Buch). Aber es ist ein schöner Schluss, den ich sehr gern gelesen habe. Es kommt zur Katharsis, zu gutem Kitsch, wie ich es nennen möchte. Ein Happy End ohne triefende Kuss-Szenen, sondern mit dem Bewusstsein, dass man für sein Glück schon etwas tun kann und auch muss. Das ist jetzt nicht eine noch nie gehörte Neuigkeit, aber selten wird dieses Wissen so liebevoll und warm weitergegeben wie in diesem Buch.

 

Gelesen 2018-02

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen

Niemand, der in Venedig und dabei bei Trost gewesen ist, kann diese Stadt, die sich den Beschauern in ihrer Grundsubstanz seit Jahrhunderten weitgehend unverändert präsentiert, jemals wieder vergessen. Und ich kenne auch niemand, der nicht den Wunsch äußert, einmal wieder dorthin zu reisen. Venedig "geht immer".

Brodsky ist auch so ein Wiederkehrer, er war viele Winter hindurch in der Lagunenstadt und erzählt in dem schön gemachten Büchlein seine kleinen Erlebnisse bei seinen Rundgängen durch die Stadt. Gerüche, Geräusche, Ansichten - wenn man denn etwas sieht, wenn der Nebel über der Stadt liegt und die Orientierung in den kleinen Gässchen zusätzlich erschwert. Brodsky ist der Meinung, dass der Winter die beste Jahreszeit für Venedigbesuche ist - ich teile seine Meinung, meine letzten Besuche fanden alle im Winter statt - aber er verschweigt auch nicht, wie ungemütlich nass-kalt die Wohnungen sind, in denen er logiert. Aber trotz der Wollsocken, mit denen er ins kalte Bett steigen muss, verfaßt er mit diesem Buch eine herzerwärmende Liebeserklärung an Venedig.

Wer Venedig mag, wird auch dieses Buch mögen.